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REIZ UND ABSENZ
Zur Ästhetik der Unschärfe in den Arbeiten von Eva Schlegel

 

erschienen in: Eva Schlegel: Neue Arbeiten, Ausstellungskatalog, Galerie Schmidt, Reith im Alpbachtal 2002

 

In dem Augenblick, in dem »trennscharf« bereits ein Lieblingswort der ordentlich Denkenden ist, in dem der jede durchschnittliche Kamera veredelnde Auto-Focus alles scharf stellt, was darf man da von Unschärfe denken? Was ist das Unscharfe, wenn das Scharfmachen und Scharfstellen allgemein geworden ist? Was bedeutet die Unschärfe, wenn jedem Schwachsichtigem nun doch schon seit ein paar hundert Jahren die entsprechende Optik individuell zum Scharfen verhilft, wenn das Linsenwesen so eindeutig in die Richtung der Verschärfung operiert oder überhaupt nur zu diesem Zweck ins Dasein getreten ist? Wenn man Begriffslisten erstellen wollte, die die Eigenschaften des Scharfen und solche des Unscharfen summieren, so müßte man in die Familie des Scharfen das Erkannte, Gewisse, Genaue, Präzise, das deutlich Repräsentierte, das Enthüllte, auch das Entschleierte und Begaffte einreihen, in den Clan des Unscharfen aber das Übrige tun, nämlich das Ungenaue, Undeutliche, Nicht-Erkannte oder sogar Nicht-Erkennbare, das hinter Schleiern Befindliche, das Verdeckte und Versteckte. Es läuft also der Intention und dem Wesen der Photographie zuwider, Unscharfes zu produzieren, auch wenn sie dies - das zeigt die Frühgeschichte der Photographie eindrücklich - einmal getan hat, wenn ihr das Unscharfe, Ungenaue gewissermassen unterlaufen ist und dann die Phantasie der Malerei beflügelt hat, wie beispielsweise diejenige Seurats durch Henry Fox Talbots »pencil of nature« beflügelt worden ist . Das Unscharfe in der Photographie ist also nicht nur eine Subversion gegen das Diktat der technischen Präzision und gegen die Inflation solcher scharfer Bilder, sondern auch ein Rückgriff auf die frühere und deshalb relevante Geschichte eines Mediums, auf jene Phase, in der sie insbesondere das Auge des Malers zu entzücken vermochte. Dieses Auge ist bestrebt, nicht nur die Dinge, sondern auch sein eigenes Sehen zu sehen, wozu es die Talbotschen Licht-Malereien insofern befähigten, als sich in ihnen die Eigenschaften des Lichtes, der Farbe und ihrer Brechungen und Zerlegung in aller Unschuld bezeugten, in einem diese Wahrheiten offenbarenden sfumato, welches dem von seiner Vision besessene Auge aufschlußreicher schien als alles scharf Gezeichnete, durch die Evidenz (= dem Sehen sperrangelweit Offenstehen) des Objektiven Verführende.

»Rückgriff auf die ältere Geschichte des Mediums« bedeutet im Falle von Eva Schlegels Photographien buchstäblich, daß sie sich nicht der autofokussierenden digitalen Kameras bedient, auch nicht einfach den Autofocus umgeht oder ausschaltet, sondern eine Spiegelreflexkamera zur Hand nimmt, den technischen Standard von Gestern wählt und eben in die andere Richtung dreht, hin zum Unscharfen. Das ist eine Operation, deren Bedeutung auf drei unterschiedlichen Ebenen zu analysieren ist: erstens auf einer mediengenealogischen, die im Sinne McLuhans die Präsenz einer älteren Generation von Apparaten in der jüngeren vorführt (etwa: Schrift im Computer, Malerei in der Photographie etc., »Camera« im eigentlichen Sinne der Barthesschen »hellen Kammer« im digitalen Blick), zweitens über den konservierenden Akt der Photographie überhaupt und damit über ihre mnemotechnische, d.h. gedächtniskünstlerische Relevanz und drittens über Strategien des Entzuges in einer allgemeinen Ästhetik.

Unscharf Stellen

Durch das unscharf Stellen wird das Rädchen zurück gedreht, gegen den Sinn der apparativen Evolution angewendet, wodurch paradoxerweise die ursprüngliche message der Linsen-Medien, nämlich die Erweiterung der menschlichen Dimension des Blicks in der Makro- und Mikro-Skopie, offengelegt wird. Im fünfzehnten Jahrhundert, als man anfing, sich einen »Beryll« auf die Nase zu setzen, um seine Denktätigkeit auf elegante Weise auch von Außen sichtbar zu machen, schrieb Nicolaus Cusanus einen Traktat über die ultimative Erkenntnisbrille, die sich die bisher Schwachsichtigen auf die Nase setzen sollten. Diese Brille - so viel darf man vermuten - war gewiß keine der gewöhnlichen Lese- oder Scharfstellbrillen, sondern ein Instrument, mit dessen Hilfe man die Unendlichkeit aufblitzen lassen konnte. Auch wer unscharf photographiert, hat nicht mehr die Wirklichkeitsdimension des menschlichen Alltagsfocus zum Ziel, sondern stellt diese in ihrer untergründigen Ideologie («alles Wahre ist scharf«) und auch Banalität bloß, um sie dann sowohl technisch wie semantisch, d.h. auch emotional, anzureichern. Es geht also nicht um den »anderen Blick« Trevor-Ropers, um den pathologischen, defizienten, um das Komisch-Sehen, das einer Störung unterliegt; die »Störung« wird freiwillig in Kauf genommen, sogar simuliert, weil die abweichende, aus der Norm gehenden Zuständlichkeiten immer schon die erkennntnisfördernden gewesen sind. Unschärfe im Bild fordert den inneren Autofocus heraus, Unscharfes wird als Einladung zur Nachsuche verstanden - automatisch. Unscharfes gibt sich dem Sehen als ungeeignetes Objekt, weshalb es dann gegenüber seinem Objekt, mit dem es ansonsten die einfachste und schnellste Form von Vereinigung anstrebt, gestärkt wird und sich selbst auf die Spur kommt.

Entzug

Die erste Reaktion auf sich Entziehendes ist die Verstärkung des Appetits. Das Zurückweichen des Bildes, auch des Textes, in die Unschärfe, verschärft die Unterstellung, daß sich etwas Großartiges und Geheimnisvolles verberge, etwas, das es verdient, entschleiert zu werden. Aber auch wenn sich die Ökonomie des Geheimnisses heute mit etwas weniger dramatischen Tönen als in Spätrenaissance und Barock erklären lassen würde, ist doch zumindest jene Fähigkeit des Unscharfen und sich Entziehenden geblieben, die Aufmerksamkeit des Betrachters in ungewöhnlicher Weise auf sich zu konzentrieren: eben nicht durch eine besondere Information, sondern durch das Unterschreiten des üblichen Informationsniveaus. Darin haben sich auf aufregende Weise Bild und Text im Barock verschworen und in einem bizarren Verwechslungsdrama, das Text für Bild und Bild für Text ausgegeben hat - die Krönung der von Derrida so genannten gräco-romanischen »Grammatologie« - die Emblematik geboren, eine neue, rätselhafte Urschrift, in der, wie in jeder ursprünglichen oder adamitischen Notation, Bild und Text eine Einheit bilden. Aber zunächst mußte der Entzug geübt werden, der Entzug des Lesenkönnens, das Aussetzen der ewigen alphabetischen Schnell-Erkennerei. Die Bilder und die Texte werden Rätsel, verschlüsselte Oberflächen, auf denen die Sinnvermutungen der konzentrierten, lesewilligen Betrachter wuchern durften. Eva Schlegel nimmt in ihren Arbeiten auf die Möglichkeit des subtilen Reizes durch Informationsentzug Bedacht, aber sie tut dies weniger, um den Betrachter auf die Fährte eines hochaufregenden Rätsels zu bringen, als um das Auge zu entlasten, um den Blick ausruhen, um ihn in der Zone der Ahnungen und Vermutungen die andere Seite des Visuellen, nämlich das Visionäre, erproben zu lassen. Dieser im Unscharfen meditierende Blick wird nicht im Sinne der Raumtiefenanalysen von Virilio eine virtuelle Attacke auf das Unscharfe vornehmen müssen, sondern das in ihm Verschleierte diskret ein Anderes sein lassen. Das Unscharfe ist nicht nur Reiz und negatives Mittel der Ökonomie der Aufmerksamkeit, es ist auch das Medium des sich unbedingt Entziehenden, nämlich der »Unhintergehbarkeit von Subjektivität«, um ein Wort von Manfred Frank zu zitieren. Aus diesem Grund erklärt Eva Schlegel, daß die Verschwommenheit ihrer Photographien ihr als die dem Portrait angemessene Darstellungsform erscheinen, als Form, die eben die Andersheit des Gegenüber, seine Eigenständigkeit, die durch die Ausstattungen der symbolischen Körper, ihre Insignien und Attribute, nur unvollständig erfaßt, ja verdeckt wird, respektiert. Unscharf stellen bedeutet hier geradezu das Schützen von Andersheit, paradoxerweise mit den Mitteln der Photographie, die ansonsten eine berühmte Indiskretion gegenüber ihrem Opfer bzw. Objekt an den Tag legt, derart, daß das Photographieren dem Seelendiebstahl gleichgestellt worden ist. Unscharf portraitiert zu werden sichert den ungehinderten Seelenbesitz, während doch etwas von dem auratischen, rätselhaften Fluidum des Portaitierten in das Bild hineinfließt und deutlich wahrgenommen werden kann. Es ist sogar so, daß die Unschärfe dem Portraitierten eine besondere Würde sichert, etwa in der Art, wie das ein Traum gegenüber einem Traumbild tut, das aus demjenigem hochflüchtigen Stoff besteht, aus dem die dream lovers sind: aus reiner Imagination. Wir befinden uns offenkundig an einem Punkt der Mediengenealogie, wo die ältere Konservierungstätigkeit des Begehrens, nämlich das Eintrüben, Verdunkeln, Unsichtbarmachen gegenüber dem modernen Arretieren, Einfrieren, in gläsernen Schreinen Aufbewahren, in der Transparenz Gelieren aufholt. Die Einsicht, daß die der höchsten Lebendigkeit angenäherte Wiedergabe eine Form der Bestattung ist, Bestattung im Licht, nicht im Dunkeln, gewinnt an Boden und gibt den Weg frei für Strategien der »sanften« Konservierung, die ihre ursprüngliche Intention - eben beispielsweise durch unscharf machen - aufzuheben versucht. Hier muß also der Blick, konfrontiert mit Unscharfem, nicht zwangsläufig polizeilich werden und reflexartig die Nachsuche aufnehmen; er darf verschwimmen.

Pornographie und Vergessen

Das Verschwimmen des Blicks bringt uns auf ein Sujet, das Eva Schlegel konsequent mitten in ihre unscharfen Texte, die Wolkenbilder, die Portraits gesetzt hat: die Pornographie. Es gibt verschiedene Arten des Entzuges, die mit der die Unschärfe des Bildes verbunden sein können; eine von ihnen ist das Verbot, das noch über dem Geheimnis steht und in der Hierarchie der Reize, wie Georges Bataille dies in seinem Buch »L'Érotisme« gezeigt hat, den höchsten Rang einnimmt. Es ist bestimmt kein Rückfall in einen Ur-Freudianismus, wenn man unterstellt, daß der Eros mehr reizt als alles andere und den größten Teil der Aufmerksamkeit von allem anderen abzieht. Bataille und Foucault waren sich darin einig, daß die Herrschaft des Eros durch Verbote, durch Grenzen und Barrieren mächtig bleibe, daß man die Reizungshitze und die Grade der Erregung um Beträchtliches steigern könne, wenn man Reiz und Verbot miteinander koppelte, was die bürgerliche Gesellschaft mit einigem Erfolg und bekannten Konsequenzen getan hat. Diejenige Oberfläche, die mit der Verheißung in die Tiefe zu locken weiß, es sei etwas Erotisches oder Pornographisches zu finden, wird über alle Texte und Bilder triumphieren, weshalb diese Verheißung die erste der Systemqualitäten sein muß, mit der die anderen eine Art Tiefenkohärenz aufweisen. Petrus von Ravenna, Mnemotechniklehrer und Verfasser einer häufig zitierten Schrift, hat im sechzehnten Jahrhundert mit der »Goldenen Regel« für alle Gedächtniskünstler und die es werden wollen verblüfft, die das einfache Bekenntnis enthielt, er pflege den Körper seiner großen Liebe, Junipera aus Pistoia, zu imaginieren und das zu Erinnernde in der Vorstellung an diesem geliebten Leibe zu »befestigen«, von wo es jederzeit mit Leichtigkeit wieder hervorzuholen sei. Vor der unscharfen Schrift, vor dem Text, den der Gedächtniskünstler sucht, den er erinnern will, kommt ihm dasjenige entgegen, das sein Interesse und seine Reizbarkeit von jeher befeuert hat und erwärmt seinen trägen Geist. Peter Matussek hat jüngst drauf hingewiesen, daß, daß die Pornoabteilung eine der bedeutendsten Serviceleistungen des Internets seien, woraus folgt, daß eine beliebige online-screen im Benutzer geradezu unscharfe Bilder von der Art evoziert, die Eva Schlegel hellsichtig »manifestiert« hat. Die Betrachter der inneren Texte, also die Mnemotechniker oder Gedächtniskünstler, lassen sich also mit denen vergleichen, die unter der Oberfläche des Bildschirms die Urszene halluzinieren und so, durch das Kreuzen und Hybridisieren der Medien - von Texten mit entzogenen (geheimen) oder verbotenen Texten, von Bildern mit verbotenen oder vergessenen Bildern - in die kleine Flamme ihres professionellen Interesses an Information den warmen Wind unschicklicher Nebeninteressen hineinfahren lassen. Das Vergessene ist strukturell identisch mit dem Entzogenen und kann als Verbotenes ungeheure Wirkungen entfalten, wie Freud und Lacan dies in luziden Analysen dargestellt haben. Man befindet sich vor den urszenenhaften pornographischen Lackbildern von Eva Schlegel im Zustand vertiefter Ahnung, die einen visuellen und erkenntnistheoretischen Habitus der Mitte, zwischen Subjekt und Objekt, beschreibt. Es tut sich da hinter - aber auch vor, nämlich im Betrachter - der brillanten Oberfläche ein Abgrund auf, der in der Tat dem Bild eine neue Dimension verleiht: es ist aber nicht eine Verräumlichung des Bildes (die beispielsweise Pollock mit ganzem Einsatz angegangen ist), die sich vollzieht, sondern das Umkippen der Fläche in jenen Sinn, die sich als Passion beschreiben ließe, als Pathoskonstellation. Es ist der Abgrund der inneren Zensur, in den man blickt, in den Abgrund desjenigen Vergessens, das ein Verbot befolgt. Deleuze hat in seinen Kino-Büchern die Potenz des Filmes herausgestrichen, dem Denken neue, ihm höchst angemessene Bilder zur Verfügung zu stellen. Dabei spielt auch jener Typ des Filmbildes eine Rolle, die er als Affekt-Bild bezeichnet. Die pornographischen Bilder von Eva Schlegel - trouvaillen, Fundstücke (tatsächlicher Problemmüll), deren Erklärung zum Kunstwerk in der Bearbeitung, in der Übertragung (verwirrender Begriff durch seine Homonymie mit dem Wort für einen psycholanalytischen Prozeß) stattfinden - sind gewiß solche Affektbilder, Oberflächen, die einen Tunnel in die heißen Gegenden, in die konstitutiven unter den Gefühlen, verschließen - oder auch öffnen wie eine Ikonostase. Da hat endlich die Kunst mehr als nur medientheoretische oder medienreflexive - die Möglichkeiten der Malerei, die Möglichkeiten der Photographie oder die Nachkommenschaft von beiden kritisierende - Relevanz. Selbstreferentialität in der Kunst ist in der Lage - das ist die gute Botschaft - etwas über das Leben aussagen

© Copyright: Elisabeth von Samsonow, 1996.